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Blinde Helden – stummer Marius

Lange hat es gedauert, bis ich dies niederschreibe. Lange habe ich mich gesträubt, diese beiden CD’s zu hören: Wir sind Helden “Von hier an blind”, Marius Müller-Westernhagen “Nahaufnahme”. Krasser könnte der Gegensatz nicht sein.

Wir sind Helden Die erste CD der Helden kam gut. Doch dann wuchs die Medienpräsenz und ich wurde skeptisch. Kaum erschien der zweite Silberling, starrten sie mir von allen möglichen Titelblättern entgegen. Ausgerechnet die Band mit der “Hallo-wir-verweigern-uns”-Attitüde. Doch ich musste uns die Chance geben und – wow – die zweite CD war noch besser als die erste. Grandiose, abwechslungsreiche Mukke, tolle Texte, mit vielen Flashbacks. Allein manche Anklänge an Ideal – so wie die Berliner sich heute anhören könnte. Klasse!

Mein Lieblingslied ist “Zuhälter”, das ich noch nie im Radio gehört habe. Stattdessen läuft “Nur ein Wort” so lange hoch und runter, dass ich es – ob des monotonen Refrains – kaum noch hören kann. Das übliche Phänomen der Musikindustrie, deren Praktiken noch in keinem deutschen Song so mutig und bildhaft an den Pranger gestellt wurden, wie im Refrain von “Zuhälter”:

Ihr schickt unsre Lieder auf die Straße
in zu engen Hosen in billigen Posen
sie soll’n ihre Runden dreh’n
mit den Kunden gehn
und wir soll’n verstehn
das ist das älteste Gewerbe der Welt

Ihr schickt unsere Lieder auf die Straßen
um für euch zu laufen, sie soll’n sich verkaufen
sie soll’n mit jedem mit
ein kleiner Ritt ist ein großer Schritt
für das älteste Gewerbe der Welt

Westernhagen NahaufnahmeMarius dagegen war einer der Helden meiner Jugend. Der Underdog. “Stinker”, “Sekt oder Selters”, dann der “Mit Pfefferminz war ich dein Prinz”-Knaller. Danach viel orientierungsloses Zeug. “Halleluhjah” war die Auferstehung, dicht gefolgt von der sofortigen Höllenfahrt. Marius wurde der Megastar. Sein Friedenslied, vorgebracht mit verkokstem Gesichtsausdruck, ganz im farblosen Armani-Understatement, brachte mich fast zum Kotzen. Ich wusste ab da: sie hatten seine Seele. Und nun? “Nahaufnahme” als altersweises Werk? Nein, eher die Produktion von jemand, der nichts mehr zu sagen hat. Der seine Diktion bei “Giselher” optimiert und eingefroren hat. Langweilig. Nicht mehr und nicht weniger. Nichts von der Metamorphose eines Grönemeyer.

Ich glaub auch nicht mehr an Che Guevara, Marius. Aber muss es wirklich die deutsche Bank sein? Du hast in deinem Leben so geile Songs gemacht, tolle Alben und klasse Filme. Wäre es wirklich so unerträglich, Rentner zu werden und den Abend im Schrebergarten zu genießen?

Loewenherz / Frisbee

Autor: Loewenherz / Frisbee

Mit acht Jahren Klavierunterricht, ab 18 E-Gitarre und Bassgitarre. 1983 erste Band. Erster Tonträger 1989 (MC VenDease live). Lehrer für Bassgitarre. Musik-Journalist beim Fachmagazin "the Bass" (vorher: "Der rasende Bass-Bote") & dem hessischen Musikermagazin Kick'n'Roll. Musik-Projekte in Offenbach und Frankfurt mit Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten. Gesangsunterricht im Bereich funktionaler Stimmbildung nach Lichtenberg und Reid mit Studium klassischer Literatur. Diplomarbeit zum Thema "Musikimprovisation in der Sozialpädagogik". Seit 1996 sporadische Auftritte mit meist improvisiertem Charakter. Bands: Bernstyn, Procyon, Uwe Peter Bande, Ven Dease (Saarland) sowie Reality Liberation Front, PLK, Valis (Frankfurt). Live-Mixer bei Lay de Fear.

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