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Dag, der Lebenskünstler

veröffentlicht in „Der rasende Bassbote“ Nr. 4/88 (später: "the bass – the german Bass-Magazine")


Endlich habe ich ihn gefunden. Vor mir liegt eine kleine Holzhütte am Waldrand, umgeben von wucherndem Gestrüpp und einer Wiese, die wohl zum letzten Mal einen Mäher gesehen hat, als Leo seinen ersten Jazz Bass zusammenschusterte. Keine Klingel, ich klopfe.
„Herein.“
Da steht er, mit einem Besen den Boden fegend, lange Haare, wildes Gestrüpp im Gesicht, tausendfach geflickte Klamotten am Leib und bis über beide Ohren grinsend, jener sagenhafte Mensch, der…
„Nenn mich einfach Dag.“
Ich beschließe, mich nicht mehr irritieren zu lassen, besinne mich auf die zehn goldenen Regeln des rasenden Bass-Reporters und lege los: „Wir vom Bassboten haben die Nachricht bekommen, daß Sie…“
„Nenn mich Dag.“
„Danke, also daß Du das absolute Talent besitzt, Dir ohne Einkommen die tollsten Edelhölzer zu leisten. Dies wollen wir unseren Lesern natürlich nicht vorenthalten.“
Wie ich so nebenbei die spartanische Einrichtung betrachte, frage ich mich, ob ich hier wirklich richtig bin. Doch da sind die Finger seiner linken Hand, die den Besenstiel hoch und runter laufen – von ionisch über mixolydisch bis lokrisch. Er muß es sein.
„Kannst Du mir ein paar Tips geben?“
„Hast Du den versprochenen Wal dabei, fretless?“
Er ist es!
Ich lege den Koffer auf den Tisch. Sofort öffnet er ihn mit zittrigen Fingern, geröteten Wangen und jenem fiebrigen Blick eines Jünglings, der seiner Angebeteten zum ersten Mal an die Wäsche darf.
„So, also ich bin bereit zum Notieren.“
Hingebungsvoll streichelt er den Hals.
„Dag, könntest Du…?“
Keine Reaktion. Mittlerweile ist er beim Korpus angelangt.
Mit einem Knall schlage ich den Koffer zu. In letzter Sekunde kann er seine tastenden Finger retten. „Erst die Infos, dann die Bezahlung“, knarre ich mit bester Mafia-Stimme.
„Wie bitte? Oh, natürlich, komm mit.“
Er geht zur Tür und öffnet sie. Ich spähe in den Nebenraum, und ein Zittern beginnt in meinen Zehen, pflanzt sich durch meinen ganzen Körper fort bis in die Fingerspitzen, die sofort zu jucken beginnen.
„Das gibt es nicht.“
Ein Bass neben dem anderen: dort ein Dutzend Alembic, daneben ein Hoyer Woodstock, ein Warwick Thumb Bass. Endlose Reihen bieten sich meinen Augen dar, die jeden Musikalienhändler vor Neid erblassen ließen; Bässe dicht an dicht, auf dem Boden, den Wänden und sogar an der Decke.
Ich schließe die Augen.
„Um gleich zum Geschäft zu kommen“, legt Dag los, und greift sich einen nagelneuen Warwick Doppelhals-Bass, „dies ist das Resultat meiner letzten Aktion.“
Ich staune, frage nach, und er beginnt zu erzählen, während er sich von einem der vielen hübschen Gewächse ein paar Blüten pflückt und zu drehen beginnt.
„Ich habe mir ein Auto gekauft, eine Schrottkiste für 400 DM und die ein bißchen aufpoliert. Dann fehlte mir noch eine Freizeit-Unfallversicherung, aber kein Problem, die Typen rennen einem ja die Haustür ein. Kaum war die Police da, stellte ich mich eines Abends hinter eine Kurve, und machte den Blinker raus, als ob ich in eine Parklücke wollte. Ich brauchte nur kurz zu warten, denn an der Stelle rast immer einer mit überhöhter Geschwindigkeit durch. Angewandte Wahrscheinlichkeitsrechung“, vollendet er grinsend und nimmt einen tiefen Zug.“
„Und dann?“, frage ich gebannt.
„Kein Problem“, sagt er und reicht das Ding an mich weiter. „Der Andere war schuld. Ich kam eine Woche ins Krankenhaus mit Comotio Cerebri und Schleudertrauma und trug zwei Wochen eine Halskrause. Das gab Schmerzens-, Tage- und Genesungsgeld und aus der Unfallversicherung konnte ich dadurch gleich wieder raus. Mein Auto war völlig Schrott – logisch, war’s auch vorher schon -, aber der Gutachter war ein Freund meiner Schwester. Ich kann Dir sagen, da kam was zusammen.“
Er deutet auf den Warwick, ein dynamisches Digital-Delay und eine Bassanlage.
Mir ist irgendwie schwindlig, meine Gedanken drehen sich, verknoten sich ineinander. Bis heute weiß ich nicht, wieso ich die nächste, schicksalshafte Frage stellte und so schon bei meinem zweiten Auftrag jämmerlich versagte.
„Was machst Du bloß im Winter in dieser Hütte?“
Er bläst mir den Rauch ins Gesicht.
„Normalerweise decke ich mich im Wald mit Holz ein, aber vorletzten Winter war ich eine Zeitlang krank, das Holz alle, naja, da mußte ich es halt tun.“
Er weist auf den kleinen, verkohlten Rest eines Basshalses.
Ich will gerade ohnmächtig werden ob dieser Verschwendung, als er mich rettet: „Es war doch nur ein alter, fertiger Luxor-Bass.“
Erleichtert atme ich auf, doch plötzlich sehe ich sein dämonisch-verzerrtes Gesicht mit riesigen schwarzen Pupillen vor mir: „Aber vor fünf Jahren, als ich einmal in der gleichen Situation war, da hab ich einen ‘58er Fender Precision verbrannt!“
„NEIN!!!“, schreie ich, schlage um mich, hinein in sein homerisches Gelächter, und finde mich schweißgebadet in meinem Bett wieder.
Es war wohl doch nur ein Traum.

Loewenherz / Frisbee

Autor: Loewenherz / Frisbee

Mit acht Jahren Klavierunterricht, ab 18 E-Gitarre und Bassgitarre. 1983 erste Band. Erster Tonträger 1989 (MC VenDease live). Lehrer für Bassgitarre. Musik-Journalist beim Fachmagazin "the Bass" (vorher: "Der rasende Bass-Bote") & dem hessischen Musikermagazin Kick'n'Roll. Musik-Projekte in Offenbach und Frankfurt mit Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten. Gesangsunterricht im Bereich funktionaler Stimmbildung nach Lichtenberg und Reid mit Studium klassischer Literatur. Diplomarbeit zum Thema "Musikimprovisation in der Sozialpädagogik". Seit 1996 sporadische Auftritte mit meist improvisiertem Charakter. Bands: Bernstyn, Procyon, Uwe Peter Bande, Ven Dease (Saarland) sowie Reality Liberation Front, PLK, Valis (Frankfurt). Live-Mixer bei Lay de Fear.

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